„Alles, was zu viel ist, wird der Natur zuwider“
– Hippokrates von Kos
Ich muss noch zehn Aufgaben erledigen heute. Da sind noch drei Blogs die ich lesen will, vier Bücher. Arbeite ich jetzt an Projekt eins, zwei oder drei weiter? Die Rezension für einen befreundeten Autoren muss ich auch noch machen. Twitter eben checken und Facebook und Instagramm und Snapchat und Pinterest. Oh, eine Nachricht auf Whatsapp! Der Chef kommt rein, schnell das Handy weg. Dann noch ran an meinen Charakter, ich muss noch einen Persönlichkeitstest für ihn machen und mindestens ein Zwanzig-Seiten-Interview erstellen. Dann ich brauche noch die Grundlagen der Philosophie meiner neuen Rasse und muss heraufinden, welche Auswirkungen das auf die Grammatik des Volkes hat.
Boom.
Es ist eine alte Erkenntnis, dass man sich mit Aufgaben übernehmen kann. Die letzten Tage standen bei mir voll und ganz unter dem Gestirn des Zuviel im Zeichen des Ach leck mich doch. Zu viel lauert überall. Zu viele Aufgaben, zu viele Ziele. Zu viel zu tun. Aber ich habe ein ganz anderes zu viel bei mir entdeckt. Zu viele Adjektive, zu viele Adverbien, das kennt man als Autor. Aber zu viele Details?
Entgegen aller Empfehlungen habe ich einen unüberarbeiteten Entwurf meines Buchs an eine Autorenkollegin gegeben und gebeten, darüber zu gucken. In mir rumorte es seit Wochen. Etwas stimmte mit meinem Buch nicht. Die Hauptfigur wusste nicht, wo sie eigentlich hin wollte. Irgendwas fehlte, dachte ich. Dazu sollte die Meinung eines Autors her. Von jemandem, der auf die richtigen Stellen schaut.
Meine Einschätzung deckte sich mit dem Feedback.
Der Antagonist war ganz gut ausgearbeitet. Das Gefühl hatte ich auch, aber der Protagnonist war blassnäsig und beliebig. Wie kommt das? Ich habe doch nach bestem Wissen und Gewissen ausgearbeitet. Ich hatte doch das Äußere beschrieben, das Innere, Konflikte entwickelt um sein Verhalten in Streitsituationen zu erspüren. Ich hatte viel mehr Arbeit in den Protagonisten investiert, als in den Antagonisten. Am besten gefiel der Kollegin eine Nebenfigur, die ich auf gerade mal einer Seite erstellt habe.
In meinem Charakter sollte alles hinein, er sollte so echt, so dreidimensional wirken wie es nur ging. Wieso war genau er der blasseste von allen?
Es passierte das Gleiche das passiert, wenn man sich zwanzig Aufgaben auf einmal vornimmt. Oder wenn man versucht, zehn Gewohnheiten in einer Woche zu verändern. Ich bin in alle Richtungen gleichzeitig gelaufen. Meine Hauptfigur war alles und nichts zugleich.
Die letzten Tage habe ich mit einer Kurzgeschichte verbracht und mein Hauptwerk einfach liegen lassen. Dazwischen habe ich mir Gedanken gemacht und ein paar Schreibratgeber durchstöbert. Ich wollte lediglich die Denkrichtung ändern. Dabei erinnerte ich mich daran, dass ich ein ähnliches Problem schon einmal hatte, als ich die Story meines Romans auf zehn Seiten zusammenfassen sollte und es mir nicht gelang.
Prägnante Kürzungen. Kurz fassen. Generell nicht meine Stärke.
Für Romane haben wir die Prämisse. Diesen einen bedeutungsschwangeren Satz der uns helfen soll, den Fokus zu behalten.
Wieso haben wir so etwas nicht für Charaktere? Oder für die Welt in der unser Held herum läuft? Einen Anker, zwei Sätze, die mich durch die Geschichte leiten.
Der Grund ist wahrscheinlich die Angst, dass die Charaktere zu eindimensional wirken. Jeder zweite Blogbeitrag handelt davon, wie man Charaktere vielschichtig macht, wie man sie so lebendig wie möglich macht und jedes mal denke ich mir: „Wie soll man DAS alles umsetzen ohne den roten Faden zu verlieren?“
Ein blasser Charakter ist die Nemesis für jeden Autor. Der Satz, der wie ein Damoklesschwert über jeder Rezension hängt. Wir tun alles, damit unsere Charaktere nicht mit diesem Prädikat ausgezeichnet werden. Viele Autoren lösen das durch möglichst viel. Sie lassen den Charakter einfach jede erdenkliche Situation durchleben, jede Emotion mitnehmen, die man sich nur vorstellen kann.
Ich habe eine Idee. Die Idee es anders zu machen und die werde ich nun umsetzen. So wie es auch auf der Arbeit funktioniert. Wie es mit Zielen und Gewohnheiten funktioniert. Mit Fokus! Weniger ist mehr, radikal entrümpeln. Im ersten Entwurf muss die Skizze stehen, messerscharf. Dann, erst dann, nehme ich die Farbe und beginne mit den Schattierungen. Ob das funktioniert? Das weiß ich noch nicht. Wir werden es sehen.
Es hat meine Geschichte schon einmal weit nach vorne gebracht, mal sehen, ob es noch einmal hilft.
Wie macht ihr das? Charaktertests? Interviews? Zwanzig Seiten über die Vergangenheit des Charakters? Oder ist auch für euch weniger mehr?
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