Die Diva Inspiration ist ein Mitglied der Dreifaltigkeit der schreibenden Zunft. Sie ist die gutaussehende Schwester der Schreibblockade. Während erstere ständig im Weg steht, laut dazwischenruft oder mal wieder Kaffee über die Tastatur gekippt hat, hat letztere die Grazie einer Hollywooddiva.
Beiträge
Talent ist nur große Geduld.
~ Anatole France ~
Ganz leer läßt der liebe Gott keinen ausgehn; die Eltern und Erzieher müssen nur ausfindig machen, wo die Spezialbegabungen liegen.
~ Theodor Fontane ~
Es gibt schlechte Eigenschaften, welche große Talente machen.
~ François VI. Duc de La Rochefoucauld ~
Das Beste findet sich dort, wo sich Fleiß mit Begabung verbindet.
~ Johannes Keppler ~
Daniel Tammet wirkt schüchtern mit seiner Nerdbrille und seinem zu groß wirkenden Mund. Er malt mit seiner Hand unsichtbare Zahlen auf den Tisch und murmelt leise. Dann gibt er seine Antwort und schiebt das verschmitzte Lächeln eines kleinen Jungen hinterher. So beginnt der Film „Brainman“. Tammet sollte die Zahl 37 mit sich selbst multiplizieren und zwar vier mal. Im Kopf.
Tammet ist Autist, ein sogenannter „Savant“. Seit einem Schlaganfall schweren epileptischen Anfall im zarten Alter von drei entwickelte der Junge
außergewöhnliche Fähigkeiten. Er hat für den Film eine Sprache gelernt, mit der er zuvor nie Kontakt hatte. Isländisch. Zeitrahmen: Eine Woche. Danach konnte er ein Interview im isländischen TV gegeben. In der Landessprache, wohlbemerkt.
Er spricht elf Sprachen und hat eine eigene (Mänti) erfunden. Er hat über Stunden 22.514 Nachkommastellen von PI referiert und damit einen neuen Europarekord aufgestellt.
Tammet gehört zu den wenigen Autisten, die über Ihre Fähigkeiten sprechen können. Wie merkt er sich das alles? Für den Normalsterblichen sind seine Ratschläge wenig hilfreich, denn Tammet ist Synästhet – Zahlen, Wörter, das alles hat für ihn eine Farbe oder Form.
Ohne Zweifel verfügt er über eine außergewöhnliche Begabung, ein schier unglaubliches Talent. Er hat Fähigkeiten, an die Normalsterbliche nicht heranreichen können.
Sie kamen über ihn, mit dem Schlaganfall epileptischen Anfall als Kind. Was ihm auf der einen Seite etwas nahm, verlieh ihm auf der anderen Seite jenen göttlichen Funken, den wir als Talent, Genie oder Hochbegabung verstehen.
Josuha Foer ist Wirtschaftsjournalist. Er gewann 2005 den US Championschip beim“Speed Card“-Wettbewerb, in dem er sich 52 Karten in 1 Minuten und 40 Sekunden merkte. Mit Hilfe sogenannter Mnemotechniken. Dabei behauptet Foer von sich selbst, eher vergesslich zu sein.
Er ist Journalist, aufgewachsen in einer Literatenfamilie als Bruder von Jonathan Safran Foer, den Du vielleicht durch das Buch und den Film „extrem Laut und unglaublich nah …“ kennst.
Foer kritisierte Tammet wegen Ungereimtheiten in seiner Vita. So behauptet Tammet, er könne sich wegen seines Autismus keine Namen merken. Im Jahr 2000 jedoch nahm er unter seinem bürgerlichen Namen „Daniel Corney“ an der Weltmeisterschaft im Gedächtnissport teil – und gewann in der Kategorie „Namen und Gesichter merken“.
Auf seiner Website schrieb Tammet damals, dass er diesen Sieg dem Einsatz von Mnemotechniken zu verdanken hatte – und löschte diese Beiträge später, als er begann sein Savant-Syndrom nach außen darzustellen. Die Inhalte konnte allerdings mit Hilfe von Webarchiven wiederhergestellt werden.
Ist Tammet möglicherweise gar kein Savant? Oder ist er Savant, hat seine unglaubliche Gedächtnisleistung aber dennoch antrainiert? Ich mag das kaum glauben, aber der Disput dieser beiden ist sinnbildlich für das Forschungsfeld der Talente.
Der zwischen ihnen ausgetragene Streit, ob eine Fähigkeit angeboten oder erlernt wurde, teilt die Wissenschaft seit vielen Jahrzehnten.
Aber nicht nur die Wissenschaft. Er teilt auch das Autorenlager.
Ohne Talent kein Buch
Einen Roman zu schreiben ist harte Arbeit. Das wissen wir alle. Wir brauchen Einfälle, Kreativität, Fleiß und wir müssen all unsere Ideen auch so auf Papier bringen, dass sie jemand lesen möchte.
In einem Forum las ich: „Entweder ich habe das Talent, dem Leser Dinge vor dem inneren Auge zu erzeugen, oder nicht. Dann sollte ich aber keine Bücher schreiben.“
Dieser Meinung sind auch 58% meiner Twitterfollower, die zum Großteil aus Autoren bestehen. Nur 37% sind der Meinung, dass Talent durch Übung ersetzbar ist. Überschaubare 5% sind der Meinung, Talent spiele gar keine Rolle
Es scheint kein Weg daran vorbei zu führen: Wenn Du kein Talent hast, wirst Du keinen Roman schreiben. Zumindest keinen, den irgendjemand lesen will.
Wie siehst Du das? Bist Du auch der Meinung, dass Talent Voraussetzung ist?
Das Problem mit dem Talent
Unter meiner Umfrage gab es zahlreiche Wortmeldungen. Viele ergänzten meine Umfrage um den Punkt: „Talent ist nötig, aber ohne Lernen nutzlos.“ Ich habe das nicht ergänzt, da es für eine Twitterumfrage zu lang war. Auf diesen Punkt komme ich später noch.
Was niemand fragte – und das wunderte mich, denn es war die erste Frage, die mir selbst in den Sinn kam – war, was Talent eigentlich bedeutet. Was ich darunter verstünde.
Ein Fußballprofi braucht andere Talente als ein Schachspieler, ein Musiker andere als ein Autor. Ja selbst ein Torwart braucht andere Talente als ein Feldspieler, ein Lehrer andere als ein Verkäufer.
Was ist denn „das Talent“, das man benötigt, um Autor zu sein? Sprachfertigkeiten? Welche davon genau? Ist es wichtig, dass ich möglichst viele Wörter kenne? Ist Imagination vielleicht wichtiger? Hängt das womöglich sogar von dem Genre ab, in dem ich schreibe?
Wie stellt man denn fest, ob jemand Talent besitzt? Am Wordcount? In der Anzahl der Rechtschreibfehler pro Seite? Anzahl der Adjektive? Verkaufte Bücher? Eine Geschichte ohne Logikfehler?
Was in Deinem Kopf ein tolles Bild auslöst, kann an mir spurlos vorbei gehen, folglich würden wir beiden womöglich das Talent ein und desselben Schriftstellers völlig unterschiedlich einschätzen.
Wer entscheidet über Talent?
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wer Dein Talent einschätzt.
Wenn Du Dein laienhaftes Umfeld fragst, ob Du Talent fürs Schreiben hast, werden Dir 80% antworten, dass Du talentiert bist. Fragst Du dagegen Andreas Eschbach oder, Gott hab ihn selig, Marcel Reich-Ranicki, wäre die Einschätzung womöglich anders ausgefallen. Fatal anders.
Es kommt darauf an, wer das Talent misst und wie er es misst. Gibt es eine objektivierbare Antwort darauf? Gibt es einen Talentmesser? Im Zweifel kann nur eine Person, die selbst fähig ist, über andere urteilen. Aber das ist ein Zirkelbezug: Wann ist denn jemand fähig?
Ein Großteil der Autoren meint, Talent sei nötig für das Schreiben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alle diese Autoren der Meinung sind, sie selbst besäßen Talent. Andernfalls würden sie es ihrer eigenen Angabe nach keine oder nur schlechte Bücher fabrizieren.
80% der Autofahrer meinen übrigens, sie fahren besser Auto als der Durchschnitt.
Ich freue mich über das gesunde Selbstvertrauen in meiner Zunft. Die Fähigkeit an sich zu glauben, ist in jedem Fall ein Erfolgsfaktor, also bleibt dabei.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem wenn Du herausfinden möchtest, wer Talent besitzt.
Ob jemand ein Talent ist oder nicht, lässt sich nur im Nachhinein herausfinden.
Wenn Du Talent hast, wird sich der Erfolg zeigen und wenn du Erfolg hast, dann bist Du talentiert.
Man kann auch sagen: Wenn Du ein Buch geschrieben hast, dann hast du das Zeug zum Autor, weil du ein Buch geschrieben hast.
Das ist tautologisch und hilft Dir nicht dabei, die Frage zu beantworten, ob Du Talent benötigst um ein Buch zu schreiben. Aber es ist exakt der Grund dafür, wieso die meisten Autoren auch der Meinung sind, sie hätten Talent.
Unter Autoren wird Verkaufserfolg sehr häufig nicht mit Talent gleichgesetzt. Teilweise werden kommerziell erfolgreiche Werke und das Talent des Autors eher diametral entgegengesetzt eingeschätzt. Der Trend, das Gespür war lediglich das richtige.
Ich könnte jetzt ketzerisch fragen: Ist das nicht auch ein Talent?
Was also ist Talent?
Von der Etymologie ist Talent erstmal eine Maßeinheit. In der Bibel ist ein Talent eine Menge an Silbermünzen. Also etwas sehr zählbares. Erst im 16. Jahrhundert kam in England der Begriff im Zusammenhang mit Fähigkeiten auf.
Es ist nicht leicht, Talent von Begabung abzugrenzen. Der Forscher Albert Ziegler tat das, indem er ein Talent als jemanden bezeichnete, der „möglicherweise Leistungsexzellenz erzielt“, wohingegen ein Hochbegabter „wahrscheinlich Leistungsexzellenz erzielt“.
Was klar und eindeutig in der Forschung voneinander abgegrenzt wird sind Talente (oder Begabungen) und Leistung. Talentierte Menschen, die Leistungsexzellenz erzielen, werden Experten genannt.
Der Begabungsforscher William Stern sagte 1916: „Begabungen sind immer Möglichkeiten zur Leistung, unumgängliche Vorbedingungen, sie bedeuten jedoch nicht Leistung selbst.“
Damit hat er eine bis heute gültige Beschreibung dafür geliefert, dass es zwar hilft Talent zu haben, man aber trotzdem am Ende Taxifahrer statt Physiker werden kann (ohne einem Taxifahrer auf die Füße treten zu wollen).
Es sagt aber wenig darüber, was Talent eigentlich ist.
Lange Zeit verortete man Talente in den sogenannten „intellektuellen Begabungen“, also sprachlich, räumlich oder logisch-mathematisch.
Der Wissenschaftler Howard Gardner prägte die Theorie der „multiplen Intelligenzen“, indem er den Begabungsbegriff um weitere Intelligenzen erweiterte, so beispielsweise um emotionale, interpersonale (wie gut kann ich mich in jemanden hineinversetzen), soziale oder köperlich-kinästhetische (Bewegung) Begabung.
Christian Fischer, Begabungsforscher an der Uni Münster, fasst das wohlwollend für uns alle zusammen: „Völlig untalentiert ist niemand.“
Er hat daraus ein Modell entwickelt, das neben dem vorhandenen Potential noch Persönlichkeitsfaktoren (Leistungsmotivation, Selbstregulierung) und Umweltfaktoren (Leistungstraining, Lehrcoching, Familie und Umfeld) ergänzt. Talent, also Anlagen, plus Persönlichkeitsfaktoren plus Umweltfaktoren ergeben Leistungsexzellenz.
Wissen wir jetzt, was ein Talent ist?
Wie misst man Talent?
Es gibt zwei Möglichkeiten. „Klassische“ Intelligenzen werden über einen IQ-Test ermittelt, Untertests ermittelt dann, ob es räumliche oder numerische Hochbegabungen gibt.
Im künstlerischen Bereich ist es schwieriger. Hier werden in der Regel Diagnosen in Wettbewerben oder Audits gestellt. Beispiel hierfür ist das Vorsprechen bei Schauspielern. Nicht selten werden diese Wettbewerbe mit bestimmten Förderungen verbunden, um Anreize zu schaffen, denn: Wer nicht hingeht, geht nicht hin. Es ist schon jetzt völlig klar, dass es viel weniger inneren Schweinehund braucht, sich zwei Stunden in einen großen Raum zu setzen und einen IQ-Test auszufüllen, als vor einer Jury vorzusprechen.
Jetzt stelle man sich einen Schauspieler vor, der alle Fähigkeiten besitzt. Aber er oder sie ist so schüchtern, dass sie sich nicht traut vorzusprechen. Abgesehen davon, dass das für den Beruf des Schauspielers schwierig ist, wenn man nicht vorspricht, würde diese Person niemals als Talent gesichtet werden. Das alleine zeigt schon, wie unterschiedlich die Begabungen sein müssen, die jemand mitbringt.
Für die Kunst gilt: Talent wird nicht gemessen, sondern eingeschätzt. Von anderen, von Lehrern und Ausbildern. In dem unten angehängten Interview sagt Titus Georgi, Schauspieler und Professor, dass es sich um eine höchst subjektive Bewertung handelt, die dadurch abgemildert wird, dass man mehrere Personen in eine Jury setzt. Ein Indikator: „Die Präsenz auf der Bühne.“ Man merkt in dem Interview, wie schwer es ihm fällt, das greifbar zu machen. Ja, was heißt denn „Präsenz auf der Bühne“… Naja, Talent halt.
Aber gibt es noch andere Möglichkeiten?
Ja. Im Sport nutzt man die Möglichkeiten der Technik.
Talent und Gene
Im Sportbereich wurden inzwischen etwa 200 Genvarianten identifiziert, die Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit haben könnten. Eindeutig nachgewiesen wurden zwei: ACTN3 und ACE.
Es deutet einiges darauf hin, dass es in vielen Sportarten hilfreich ist, die richtigen genetische Vorbedingungen mitzubringen. So lässt sich zum Beispiel die Muskulatur, die für Schnelligkeit zuständig ist, fast nicht trainieren. Jockeys oder Basketballer brauchen zum Beispiel eine bestimmte Körpergröße.
Aber es geht auch weniger offensichtlich.
Die Volksgruppe der Kalenjin besteht aus etwa 3,5 Millionen Menschen weltweit. Aber sie haben seit 1980 ungefähr 40% aller wichtigen Langstreckenrennen gewonnen. Bis 2016 haben es 17 Amerikaner (von 322 Millionen) geschafft, einen Marathon unter 2:10 Stunden zu laufen. Allein im Oktober 2011 haben 32 Kalenjin diesen Rekord geschlagen.
Es ist ziemlich deutlich, dass diese Volksgruppe eine besondere genetische Veranlagung für den Langlauf besitzt.
Dem entgegengesetzt sei eine Studie des Spaniers Alejandro Lucia von der Universität in Madrid. Er hat 7 Gene von 46 spanischen Athleten betrachtet, die Weltklasseleistungen im Bereich Laufen oder Radfahren erzielten. Die Gene waren unter anderem verantwortlich für einen verbesserten Stoffwechsel und größere Energie-Effizienz in der Muskulatur. Die Theorie: Sollte es nicht wahrscheinlich sein, dass unter Spitzensportlern ein Großteil auf annähernd 100% dieser Genkomponenten kommen muss?
Die besten 20 der 46 Sportler kamen auf einen Anteil von 75% der „optimalen Gene“, der Rest lag darunter. 100% erreichte niemand.
Auf 75% dieses Genprofil kommen aber etwa auch 5,3 Millionen andere, durchschnittliche Spanier, so
dass Lucia sich zu der Aussage hinreißen ließ: „Ein gesunder, durchschnittlicher Spanier ist nicht durch sein Genprofil begrenzt, bei der Tour de France aufs Podium zu fahren.“
Dazu passt, dass es immer wieder Hochleister gibt, die von sich selbst behaupten, kein Talent zu besitzen. Albert Einstein (ich bin nur sehr neugierig), Jürgen Kohler (Fußball Welt- und Europameister, Champions League Sieger, Deutscher Meister) oder auch Ed Sheeran, der mit jedem neuen Album von Rekord zu Rekord eilt, behauptet, sein Talent betrage „höchstens 30%“.
Doch wie ist das bei Kopfarbeitern? Welche Rolle spielen die Gene hier?
Der IQ gilt gemeinhin bis zu 70% genetisch determiniert.
Aber der Sozialpsychologe James Flynn hat IQ-Test der vergangenen Jahre ausgewertet und ist dabei auf eine
Auffälligkeit gestoßen: Der IQ ist über die Zeit von 100 Jahren im Mittel von 100 auf 130 angewachsen. Die Menschen werden klüger, besagt der „Flynn-Effekt“. Gründe für das Wachstum: Lernstrategien, Wettbewerb, gesundes Essen; Medizin und eine Vielzahl anderer Faktoren.
So gab es mal einen messbaren IQ Unterschied zwischen Männern und Frauen – dieser ist heute in Industrienationen obsolet. Man kann IQ trainieren. Allerdings gibt es ein Plateau – das Skandinavien schon seit einigen Jahren erreicht hat.
Was, wenn nicht die Gene?
Der Schwede Karl Anders Ericsson hat sich in einer heute allgemein anerkannten Studie mit Genies und ihren Lebenswegen beschäftigt. Seine Forschungen führten zu dem Ergebnis, dass jedem noch so Hochbegabten eine Lehrzeit von etwa 10.000 Stunden voraus ging. Das sind etwa 10 Jahre. Erst nach zehn Jahren harter und intensiver Arbeit, wurden herausragende Werke geschaffen – das gilt auch für Mozart, der einfach sehr früh begonnen hat. Ericsson ist der Wegbereiter des „Nuture“-Lagers, also der Idee, dass Genie antrainiert werden kann.
Und er hat gewichtige Argumente.
Genie ist erlernbar, wenn bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten werden. Das Stichwort: Deliberate Practice, also die hochkonzentrierte Arbeit außerhalb der Komfortzone.
Ericsson hat eine breite Anhängerschaft und es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass seine Theorie richtig ist.
In Asien wächst eine riesige Anzahl von hochbegabten Spitzenmusikern heran. Dort wird geübt, was das Zeug hält, von Kindesbeinen an. Und viele von Ihnen schaffen es, Exzellenz in ihrem Bereich zu erlangen.
Eines der eingängigsten Beispiele für Ericssons Theorie aber ist der Pädagoge Láslzló Polgár. Polgár hat, von den Werken des Amerikaners John B. Watson inspiriert, ein unglaubliches Langzeitexperiment an seinen eigenen Töchtern durchgeführt. Er war der festen Überzeugung, dass Talent erlernbar sei und hat seinen drei Töchtern das Schachspiel beigebracht, von Kindesbeinen an mit harten, langen Trainings. Er hat sie von der Schule abgemeldet und Zuhause unterrichtet.
Sein Ziel: Seine Töchter zu weltklasse Schachpielerinnen machen.
Alle drei Polgár Schwestern sind heute Schach-Großmeisterinnen und zählen zu den spielstärksten Frauen weltweit.
Vielleicht kann man auch Britney Spears, Michael Jackson oder Justin Timberlake dazu zählen, die seit Kindesbeinen an von ihren Eltern zu Musikern „erzogen“ wurden. Auch von den Venus-Schwestern im Tennis ist bekannt, dass sie gezielt von Ihren Eltern gefördert wurden. Es sei dahingestellt, wie gut es den Kindern letztlich getan hat, aber in dem trainierten Bereich erreichten sie zweifelsfrei eine Exzellenz und Bekanntheit.
Dr. Ingmar Ahl von der Karg-Stiftung für begabte Kinder fasst es so zusammen: „Die Vorstellung, dass ein Genie vom Himmel fällt, ist absoluter Kitsch. Andererseits wissen wir aus der Expertiseforschung sehr genau, dass Übung alleine nicht reicht. Somit sind wir sozusagen auf das verwiesen, was dazwischen liegt.“
Gemeint sind die Persönlichkeitsmerkmale und Umfeldbedingungen. Fairerweise sagt er selbst: „Wir sind uns alle nicht einig, was Begabung eigentlich ist. Wir wissen auch alle nicht, was ein Talent ist.“
Dieser Blogbeitrag fing mit einer harmlosen Idee an und entwickelte sich zu einem 8 Wochen langen Recherchemarathon. Am besten lässt er sich wohl mit den Worten eines weiteren Genies zusammenfassen:
„Da steh´ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!“
Brauchst Du nun Talent als Autor?
Wie viel Talent hat J.K. Rowling. Was genau sind ihre Talente? Was sind die Talente von J.R.R. Tolkien, William Somerset Maugham, George R.R. Martin, Charles Dickens, Jo Nesbo?
Ich bezweifle nicht, dass es sich bei ihnen allen um Hochbegabte oder zumindest stark talentierte Menschen handelt, deren am meisten ausgebildeten Talente aber wahrscheinlich in völlig unterschiedlichen Bereichen liegen.
Jo Nesbo beispielsweise war als Finanzanalyst erfolgreich. Er wäre beinahe Profifußballer geworden, hat mit seiner Band mehrere Top10 Platzierungen in den norwegischen Charts und als Autor Millionen Bücher verkauft. Den meisten fällt es schwer, in nur einem Bereich erfolgreich zu sein – es deutet schon darauf hin, dass er eine gewisse Begabung für das hat, was er tut. Oder er hat die richtigen Lerntechniken bzw. das richtige Umfeld. Seine Mutter ist Bibliothekarin.
J.K. Rowling war alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin, als sie an ihrem ersten Harry Potter schrieb. Welche Fähigkeiten waren da wichtig, um nicht aufzugeben? Ist es entscheidender gewesen, sich gut organisieren zu können, niemals aufzugeben oder war es ihre Fähigkeit, schöne Sätze zu schreiben?
William Somerset Maugham war früh Waise und stotterte als Kind. Sein frommer Onkel steckte ihn von einem Internat in das nächste. Was hat ihn wohl dazu gebracht, beim Schreiben zu bleiben?
Welche Faktoren nun jeden der oben genannten zu einem außergewöhnlichen Autoren gemacht haben, lässt sich nicht sagen. Wir beobachten wieder einmal nur rückwirkend und was wir sehen ist das Ergebnis, nicht aber die Faktoren, die zum Ergebnis geführten haben.
Was also hat Talent für Dich konkret für eine Bedeutung?
Marie von Ebner-Eschenbach sagte dazu: „Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun“.
Es ist schwer bis unmöglich vorherzusagen, welche Eigenschaften zum Erfolg führen. Es lässt sich aber relativ klar sagen, dass intensives Üben dich besser macht. Schaffst Du es, 10 Jahre lang täglich drei Stunden außerhalb Deiner Komfortzone zu lernen, kannst Du zu einem echten Großmeister werden. Darauf deutet alles hin.
Ericsson meint, dass das Lernen das einzig Entscheidende sei. Oft wird kritisiert, dass man ein Kind eben nicht zu etwas zwingen kann, dass es nicht will und von daher kann das Kind in einem erzwungenen Bereich auch keine Expertise entwickeln. Es kann eben nicht jeder alles lernen und ein Genie werden.
Aber wir beschäftigen uns alle freiwillig mit dem Schreiben. Wir machen das, weil irgendetwas bereits in uns ist. Von Kindesbeinen an haben wir Stunden mit Lesen verbracht, der Grundlage fürs Schreiben. Wir haben Fantasie entwickelt, als wir uns in die Geschichten eingelebt haben, haben spielerisch mit Worten gespielt, Filme gesehen und uns in die Welten geträumt.
Selbst jene wie ich, die erst mit über dreißig auf die Idee kommen, ein Buch zu schreiben, haben diese Grundsteine bereits gelegt. Jo Nesbo hat erst mit 37 seinen ersten Roman veröffentlicht.
Vergeude Deine Zeit nicht damit, dich zu fragen ob du Talent hast oder nicht.
Ich sage es kurz: Dein Talent spielt keine Rolle. Wenn Du jetzt hier stehst, Autor bist oder es werden willst, dann hast du den Grundstein bereits gelegt. Dann ist in Dir irgendwas, das raus will.
Talent spielt keine Rolle, weil Du nicht weißt, welches Talent Du für Deine Lebenssituation genau benötigst. Es spielt keine Rolle, weil Du es vielleicht schon besitzt und es lediglich nicht weißt. Talent heißt nicht: Schön schreiben können. Das kann man lernen. Als wir geboren wurden, konnte keiner von uns schreiben.
Wenn Du gerne schreibst und bereit bist, viel Zeit, Geduld und Übung zu investieren, kannst Du ein guter Autor werden.
Nutze das.
Und dann heisst die Devise: Üben, üben, üben. Lerne, hole Dir Feedback. Tausche Dich aus. Notiere Dir Fehler, guck was Du falsch gemacht hast, mach es besser. Schau auf gute Autoren, versuche zu verstehen, was sie getan haben in ihren Büchern. Und dann fang von vorne an. Lies Ratgeber, mach Kurse mit. Finde alles scheiße was dort gelehrt wird und finde deinen eigenen Weg.
Womöglich hilft es auch, Dein erstes Buch nicht zu veröffentlichen. An Scheitern wächst man – gibt Dein Werk an Agenten und Verlage und hole Dir Körbe ab. Wachse daran und mache weiter.
Aber verdammt nochmal: Mach weiter.
Niemand kann sagen, was ein wirklich guter Autor ist. Niemand weiß, welcher der veröffentlichten und erfolgreichen Autoren talentiert ist oder wer einfach viel gelernt hat. Es sind auch nicht alle gleich gut, aber viele sind gut genug um tolle Literatur zu schreiben. Es muss ja auch nicht jeder Cristiano Ronaldo sein. Vielleicht reicht auch Hans Sarpei. Dann kannst du trotzdem vom Schreiben leben und hast eine große Anhängerschaft.
Und dann am Ende, in ein paar Jahren, wenn Du vom Schreiben lebst und die Leute Dich gerne lesen, dann sagen vielleicht einige von ihnen: Du bist ein talentierter Autor. Denn Du hast gute Bücher geschrieben.
Danke, dass Du dran geblieben bist. Alle meine Quellen hängen diesem Artikel an. Hörenswert ist dieser Podcast der Volkswagen Stiftung. Für alle, die Lust haben etwas tiefer in die Materie einzutauchen:
Quellen:
https://www.chesspoint.ch/blog/schachgeschichte/das-polgar-experiment
https://www.aponet.de/aktuelles/kurioses/20150413-schulmuffel-lernunlust-ist-zum-teil-vererbt.html
http://www.stangl-taller.at/TESTEXPERIMENT/testintelligenzhochbegabt.html
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/terman.pdf
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/mindmag79-tgb.pdf
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/mindmag74-tgb.pdf
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/mindmag75-tgb.pdf
https://www.uni-due.de/imperia/md/content/dia/mindmag101-tgb.pdf
http://www.deutschlandfunkkultur.de/das-erlernbare-talent.950.de.html?dram:article_id=137876
http://www.zeit.de/2015/44/talent-uebung-musik-lernen-forschung/seite-2
http://www.spektrum.de/news/wenn-krankheit-kreativ-macht/1221371
http://jmg.bmj.com/content/45/7/451.full
http://www.businessinsider.de/anders-ericsson-how-to-become-an-expert-at-anything-2016-6?r=US&IR=T
http://www.zeit.de/2016/35/sportliches-talent-sport-training-olympia-psyche-erfolg-gene/seite-2
http://www.focus.de/wissen/mensch/psychologie/tid-14115/psychologie-alles-nur-uebung_aid_387226.html
Hallo liebe Leser,
der folgende Artikel ist ein Gastkommentar von Ron Kellermann und auf Auftakt meiner Zusammenarbeit mit dem Dramaturgieblog filmschreiben.de.
Ich bin dankbar für diese Möglichkeit. Der tiefe Fundus an Wissen, den dieses Blog bereithält ist lesenswert für jeden, der sich mit dem Schreiben beschäftigt, ganz gleich ob es sich dabei um Drehbuch- oder Prosaautoren handelt.
Der Originalartikel erschien am 08. Januar 2017 auf filmschreiben.de
Studium der Philosophie, Germanistik, Medien- und Kommunikationswissenschaften; seit 2001 in der Drehbuchentwicklung (u.a. als Dramaturg und Lektor bei Wüste Film, Hamburg); seit 2004 freiberuflicher Filmdramaturg und Drehbuchdozent; annähernd 300 Dramaturgie-Seminare und Stoffentwicklungs-Workshops; ca. 250 dramaturgische Beratungen von Autorinnen und Autoren; seit 2013 als Senior Consultant Storytelling im Experten-Netzwerk von die firma . experience design, Wiesbaden; Autor des Buches Fiktionales Schreiben – Geschichten erfinden, Schreiben verbessern, Kreativität steigern, Emons Verlag, Köln; sein Buch Das Storytelling-Handbuch: Inhalte professionell entwickeln erscheint im Frühjahr 2017 beim Midas Verlag, Zürich
Eine der Hauptschwierigkeiten beim Entwickeln und Erzählen einer Geschichte besteht darin, aus der riesigen Fülle von Ideen und den Möglichkeiten an Figuren, Konflikten, Handlungen, Themen, Ereignissen, Szenen und Dialogen die „richtigen“ auszuwählen und die „falschen“ wegzulassen. Die Kriterien, an denen sich Autorinnen und Autoren orientieren können, um diese Entscheidungen zu treffen, lassen sich mit dem Begriff Erzählökonomie bezeichnen: Welche dramatischen Elemente braucht eine Geschichte, um erzählt und als bedeutsames Ganzes verstanden zu werden? Und welche nicht?
WELCHE DRAMATISCHEN ELEMENTE BRAUCHT EINE GESCHICHTE, UM ERZÄHLT UND ALS BEDEUTSAMES GANZES VERSTANDEN ZU WERDEN? UND WELCHE NICHT?
Erzählökonomisches Arbeiten unterstützt Autorinnen und Autoren dabei, Klarheit über das zu gewinnen, was sie erzählen wollen, ihre Geschichten effizienter zu entwickeln und sich auf das erzählerisch Notwendige zu fokussieren. Dadurch vermeiden sie, ins Blaue abzudriften und Zeit zu verschwenden, den Erzählfaden zu verlieren und unnötig herumzueiern, die Geschichte irgendwann entsorgen zu müssen oder ein oberflächliches, nichtssagendes Heititeiti zu erzählen, das niemanden interessiert.
Filmisches Erzählen ist in genau diesem Sinne ökonomisch – Ausnahmen bestätigen natürlich das Gegenteil –, da Aus- und Abschweifungen hier schnell dazu führen, dass das Publikum nicht mehr folgen kann, weil es die Geschichte nicht versteht oder schlimmer noch: langweilig findet. Das hat mit den spezifisch filmischen Rezeptionsgewohnheiten und -bedingungen zu tun. Schauen funktioniert anders als Lesen. Man nimmt eine andere Haltung ein. Dennoch ist Erzählökonomie auch für Prosa-AutorInnen ein relevantes Thema.
Ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry drückt sehr schön aus, was Erzählökonomie meint: Perfektion entsteht nicht, wenn nichts mehr hinzuzufügen ist, sondern wenn man nichts mehr entfernen kann.
Dramatische Relevanz
Dieses Zitat ist gewissermaßen das Mantra der Erzählökonomie, deren übergeordnetes Kriterium die sogenannte „dramatische Relevanz“ ist: Welche Elemente sind dramatisch relevant, müssen also erzählt werden, damit die Geschichte Sinn ergibt und verständlich wird? Es gibt einen einfachen Test, um die dramatische Relevanz eines Elements zu ermitteln: Man lässt dieses Element einfach weg und betrachtet die Auswirkungen: Wie verändert sich die Geschichte, wenn ich dieses Element nicht erzähle? Bricht sie zusammen und wird unverständlich, ist das Element dramatisch hochrelevant. Verändert sie sich nicht, ist es dramatisch irrelevant und kann weggelassen werden – egal wie interessant und/oder originell es ist. Denn nicht alles, was interessant und originell ist, muss auch relevant sein. Und dramatische Relevanz sollte immer über der Verliebtheit in die eigenen Ideen stehen:
In writing, you must kill your darlings, soll William Faulkner gesagt haben.
NICHT ALLES, WAS INTERESSANT ODER ORIGINELL IST, MUSS AUCH DRAMATISCH RELEVANT SEIN.
Um über dramatische Relevanz entscheiden zu können, braucht es Kriterien: Nach welchen Kriterien lässt sich entscheiden, welche dramatischen Elemente gebraucht werden, um eine Geschichte zu entwickeln und zu erzählen und welche nicht? Die Spielfilmdramaturgie liefert diese Kriterien für alle drei Dimensionen einer guten Geschichte: der charakterzentrierten Dimension, der konfliktbasierten und der werteorientierten.
Einige der zentralen Werkzeuge und Kriterien werde ich nun vorstellen:
Dramatisches Ziel und dramatische Frage
Wesentliche Voraussetzung für eine aktive Hauptfigur und einen interessanten Konflikt ist das dramatische Ziel der Hauptfigur: Sie will etwas, etwas in der äußeren Welt. Das dramatische Ziel ist ein „äußeres Wollen“. Es ist immer konkret in dem Sinne, dass am Ende der Geschichte eine Situation eintritt, in der eindeutig entschieden wird, ob die Hauptfigur ihr Ziel erreicht oder nicht. Glück kann also nicht das Ziel einer Hauptfigur sein, weil es zu abstrakt ist. Publikum und Leserschaft wissen nicht, wann genau dieser Zustand erreicht ist. Das Glück müsste also konkretisiert werden: Wann genau ist die Figur glücklich – oder glaubt, glücklich zu sein?
NUR WER WEISS, WAS DIE HAUPTFIGUR WILL, KANN WISSEN, WIE SIE HANDELT UND WELCHE IHRER HANDLUNGEN DRAMATISCH RELEVANT SIND
Der Kommissar will den Mörder überführen. Die Liebenden wollen zusammen sein. … In dem Spielfilm LITTLE MISS SUNSHINE – der erzählökonomisch betrachtet nahezu ideal entwickelt ist – wollen Olive und ihre Familie rechtzeitig in Kalifornien ankommen, damit Olive an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen kann.
Nur wer weiß, was die Hauptfigur will, kann wissen, wie sie handelt oder welche ihrer Handlungen für das Erzählen der Geschichte relevant sind.
Aus dem dramatischen Ziel ergibt sich die dramatische Frage, die immer die Grundform hat: Wird die Hauptfigur ihr Ziel erreichen? Sie wird am Ende der Geschichte beantwortet: ja, nein, ja aber, nein aber. Ja, die Hauptfigur bekommt alles, was sie will; nein, sie verliert alles; ja, sie bekommt es, aber anders als sie dachte; nein, sie bekommt es nicht, erhält dafür aber etwas viel Wertvolleres, von dem sie zu Beginn noch gar nichts wusste.
Die dramatische Frage erzeugt den grundlegenden Spannungsbogen einer Geschichte. Der Prozess ihrer Beantwortung hält unser Interesse aufrecht und steigert es nach Möglichkeit sogar. Die Antwort auf sie befriedigt unser Interesse.
Wird der Kommissar den Mörder überführen? Werden die Liebenden zusammenkommen? Wird es Olive und ihrer Familie gelingen, rechtzeitig in Kalifornien anzukommen und den Wettbewerb zu gewinnen?
Im Hinblick auf die Erzählökonomie sind nur die Handlungen dramatisch relevant, die die Hauptfigur ausführt, um ihr Ziel zu erreichen und die damit zur Beantwortung der dramatischen Frage beitragen, kurz: Alles, was die Figur tut, tut sie, um ihr Ziel zu erreichen. Ob sie sich in der Konsequenz ihrer Handlungen ihrem Ziel nähert oder sich von ihm entfernt, spielt dabei keine Rolle. Würde Olives Familie plötzlich eine Bank überfallen, dann könnte das zwar spannend sein, es wäre aber nicht dramatisch relevant, weil der Banküberfall nichts mit ihrem Ziel zu tun hat. Anders wäre es, wenn sie Geld bräuchte, um ihren Weg fortzusetzen, beispielsweise für Benzin.
Geht es um die handlungsbasierte Dimension einer Geschichte, ist die Frage „Versucht die Hauptfigur mit dieser Handlung ihr Ziel zu erreichen?“ also ein wichtiges Kriterium für dramatische Relevanz. Dieser Dimension liegt die Frage „Um was geht es?“ zugrunde. In einer guten Geschichte geht es jedoch nicht nur um etwas, vielmehr erzählt sie auch über etwas. Erst dadurch erhält sie Bedeutung:
Die werteorientierte Dimension
Gute Geschichten sind immer auch Wertediskurse. Sie unterstützen uns dabei, Antworten auf zwei existenzielle Fragen zu finden: „Wie soll ich leben?“ und „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“. Die zentralen dramaturgischen Werkzeuge in dieser Dimension einer Geschichte und damit Kriterien für ihre dramatische Relevanz sind: das inhaltliche Thema, das emotionale Thema, die zentrale Frage und die Aussage einer Geschichte.
GUTE GESCHICHTEN SIND IMMER AUCH WERTEDISKURSE.
Inhaltliches Thema
Inhaltliche Themen können sein: aktive Sterbehilfe, die alternde Gesellschaft, illegale Einwanderung, Drogen, Inklusion, Integration, Gewalt, Spionage, Unterdrückung, Überwachung, Selbstjustiz, Patchwork-Familien, der Kalte Krieg und so weiter. Sie können kultur- und gesellschaftsspezifisch sein. Das Thema „alternde Gesellschaft“ beispielsweise wird in Deutschland immer bedeutender, in Ländern mit jungen Bevölkerungen spielt es hingegen keine Rolle.
Aus dem inhaltlichen Thema ergibt sich die Handlungsebene einer Geschichte. Es kann noch so interessant sein – ohne emotionales Thema, das ihm zugrunde liegt, bleibt es leblos.
DAS INHALTLICHE THEMA KANN NOCH SO INTERESSANT SEIN – OHNE EMOTIONALES THEMA BLEIBT ES LEBLOS.
Emotionales Thema
Zu den emotionalen Themen gehören: Liebe, Freiheit, Selbstbestimmung, Nähe, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Loyalität, Vertrauen, Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Unversehrtheit, Respekt, Heimat, Identität, Anerkennung und ihre Gegenteile: Hass, Sklaverei, Unsicherheit, Chaos, Fremdbestimmung, Distanz, Einsamkeit, Verrat, Krankheit, Orientierungslosigkeit, Verachtung, Identitätsverlust, Ausgeschlossensein, Ablehnung.
Emotionale Themen sind universell, archetypisch, transhistorisch, transkulturell, funktionieren also unabhängig von Zeit- und (Kultur)raum. Hollywood-Filme sind nicht wegen ihrer Stars oder großen Budgets weltweit erfolgreich, sondern weil sie überall auf der Welt emotional „verstanden“ werden können. Aus dem emotionalen Thema ergibt sich die emotionale oder Beziehungsebene.
Die zentrale Frage
Die zentrale Frage einer Geschichte – nicht zu verwechseln mit der dramatischen Frage – stellt das inhaltliche und das emotionale Thema in Form einer Frage dar, die die Autorin oder der Autor mit der Geschichte beantworten will. Dramatische und zentrale Frage geben einer Geschichte Richtung. Die Antwort auf die zentrale Frage ist die Aussage der Geschichte.
Die Aussage der Geschichte ist das, was dem Publikum mitgeteilt werden soll. Jede Geschichte – sofern sie als sinnvolles Ganzes verstanden wird und alle Fragen, die sie aufwirft, beantwortet – trifft eine Aussage, vertritt also einen bestimmten Standpunkt zu den Themen, über die sie erzählt – ob die Autorin oder der Autor will oder nicht. Denn eine sinnvolle Geschichte ist ein kommunikativer Akt und jedem kommunikativem Akt liegt ein bestimmtes Thema zugrunde, zu dem Stellung bezogen wird.
JEDE GUTE GESCHICHTE VERTRITT EINEN BESTIMMTEN STANDPUNKT ZU DEN THEMEN, ÜBER DIE SIE ERZÄHLT – OB DIE AUTORIN ODER DER AUTOR WILL ODER NICHT.
In LITTLE MISS SUNSHINE geht es auf der Handlungsebene um das inhaltliche Thema Erfolg, um Gewinnen und Verlieren: Die Familie fährt nach Kalifornien, damit Olive den Wettbewerb gewinnt. Ihre Handlungen sind auf dieses Ziel ausgerichtet. Die Beziehungsebene erzählt von den emotionalen Themen Gemeinschaft, Familie, Zugehörigkeit: Zu Beginn der Geschichte ist die Familie kaputt. Nur Olive versteht sich mit allen gut, die anderen wollen nichts mehr miteinander zu tun haben, belügen sich, feinden sich an. Am Ende funktioniert die Familie wieder, ihre Mitglieder halten zusammen und stehen füreinander ein.
Die zentralen Fragen lauten „Was ist ein Gewinner?“ (inhaltliche Ebene), „Was macht eine gute Familie aus?“ (emotionale Ebene) und „Was macht glücklich: Erfolg oder Familie?“ (inhaltliche und emotionale Ebene, aus der sich die Zuspitzung des Wertekonflikts in Form eines Dilemmas ergibt). Die Aussagen des Filmes sind: „Ein Verlierer ist jemand, der so viel Angst vorm Verlieren hat, dass er es noch nicht einmal versucht. Ein Gewinner versucht es, egal ob er erfolgreich und der Beste ist oder nicht“, „Eine Familie funktioniert, wenn ihre Mitglieder zusammenhalten und füreinander einstehen“ und „Familie ist wichtiger als Erfolg“.
Wie hilft mir das alles nun in Sachen dramatische Relevanz? In der werteorientierten Dimension stellt man sich die Frage, ob ein bestimmtes Element die Themen, die zentrale Frage und die Aussage transportiert beziehungsweise spiegelt oder nicht: Transportiert dieses Element das inhaltliche oder das emotionale Thema? Stellt es einen Standpunkt dar? Zeigt es eine andere Perspektive auf? Trägt es zur zentralen Frage und ihrer Beantwortung bei? Lauten die Antworten auf diese Fragen „nein“, kann man auf dieses Element verzichten.
FIGUREN SIND TRÄGER THEMATISCHER STANDPUNKTE.
In der charakterorientierten Dimension helfen diese Werkzeuge (die zwei Themen, die zentrale Frage und die Aussage), die Figuren stimmig und effizient zu entwickeln. Und zwar, indem ihnen bestimmte Standpunkte zugeordnet werden und sie damit thematische Aspekte transportieren: Auf der Beziehungsebene in LITTLE MISS SUNSHINE steht die Mutter für das positive Bild einer funktionierenden Familie („Wir sind eine Familie, und was immer auch geschieht, wir lieben uns, und das ist das allerwichtigste“). Der Sohn steht für die Negation von Familie, indem er mit seinem anfänglichen Schweigegelübde seinen Hauptkanal für Kommunikation verschließt – bis er dann doch irgendwann lauthals zum Ausdruck bringt, was er denkt und fühlt: „Ihr seid nicht meine Familie, ich will überhaupt nicht zu eurer Familie gehören, ich hasse euch: Geschieden, Selbstmord, Bankrott. Ihr seid Verlierer, beschissene Verlierer.“ Womit dieser Dialog nicht nur das emotionale, sondern zugleich das inhaltliche Thema bedient. Das ist gute Dialogarbeit.
Auf der Handlungsebene steht der Vater für das Thema Erfolg: Er hat ein Neun-Stufen-Konzept entwickelt, das garantierten Erfolg verspricht, ist damit jedoch selbst erfolglos. Er denkt an nichts anderes als an Erfolg und er spricht von nichts anderem. Seine Weltsicht ist klar definiert und unterscheidet zwischen „zwei Arten von Menschen: Gewinnern und Verlierern.“ Der Opa und der Onkel stehen für das Thema Verlieren: Der Opa hat in seinem Leben nie etwas auf die Reihe bekommen und fliegt sogar aus dem Pflegeheim. Der Onkel hat seine Liebe, seinen Job, seine Wohnung und seinen sozialen Status verloren und wollte sich deshalb das Leben nehmen.
Dass die Figuren als Familie wieder zusammenwachsen müssen, um glücklich zu werden, ist nicht der Grund, warum sie aufbrechen, warum sie aktiv werden. Aber es ist das, was sie am Ende bekommen: Sie gewinnen sich als Familie wieder, nachdem jeder einzelne zuvor alles verloren hat. Auf diese Weise sind inhaltliches Thema und emotionales Thema, Handlungsebene und Beziehungsebene miteinander verknüpft.
Fehlt Figuren der Bezug zu den Themen, der zentralen Frage und der Aussage einer Geschichte, wirken sie willkürlich und bleiben oberflächlich – egal, wie detailliert ihre Biografie ausgearbeitet ist und ob die Autorinnen und Autoren sogar wissen, welche Zahnpasta ihre Figuren benutzen. Insbesondere hier – in der Figurenentwicklung – sind dramatische Relevanz und Erzählökonomie von großer Bedeutung. Eine Figur zu entwickeln – ihre physiologische, soziologische und psychologische Dimensionen und ihre Biografie – macht zwar Spaß. Es kann aber auch schnell zu einer perfiden Vermeidungsstrategie werden: Man wähnt sich produktiv, tatsächlich vermeidet man jedoch, die Geschichte weiterzuentwickeln. Mit den Kriterien der dramatischen Relevanz können sich Autorinnen und Autoren immer selbst hinterfragen, ob sie gerade produktiv sind oder nur so tun.
FEHLT FIGUREN DER BEZUG ZU DEN THEMEN, DER ZENTRALEN FRAGE UND DER AUSSAGE EINER GESCHICHTE, WIRKEN SIE WILLKÜRLICH UND BLEIBEN OBERFLÄCHLICH.
Inhaltliches Thema, emotionales Thema, zentrale Frage und Aussage sind außerdem wesentliche Elemente der sogenannten Erzählintention. Mit „Erzählintention“ sind folgende Fragen gemeint: Warum will ich dieses Thema bearbeiten, diese Idee entwickeln, diese Geschichte erzählen? Was interessiert mich daran? Welche gesellschaftliche Dimension und Relevanz hat das Thema? Was will ich dem Publikum oder den Lesenden mitteilen? Was sollen sie über das Thema lernen? Woran können sie sich reiben?
Story Molecule: Handlungswelt, Beziehungswelt und Innenwelt
Wie der Charakter einer Figur sich entwickelt ist nachvollziehbar, wenn ihre Entwicklung dynamisch gestaltet ist, sich also Schritt für Schritt vollzieht, und nicht lediglich am Ende behauptet wird. Schritt für Schritt heißt, dass sich Ereignisse in der Außenwelt auf die Innenwelt der Figur auswirken und diese Auswirkungen wiederum rückwirkend die Handlungen der Figur und ihre Beziehungen beeinflussen. Ein hervorragendes Werkzeug, um diese wechselseitige Beeinflussung der drei Welten und Konfliktebenen einer Figur – der äußeren Welt der Handlungen, der emotionalen Welt der Beziehungen und der inneren Welt der Identität – zu gestalten, ist das Story Molecule. Es führt Plot und Figur zu einer dramatischen Einheit zusammen.
GUTE GESCHICHTEN SPIELEN IN DREI WELTEN: DER HANDLUNGSWELT, DER BEZIEHUNGSWELT UND DER INNENWELT.
Visualisiert wird es als drei ineinander liegende Kreise, die jeweils für eine Welt stehen: Der äußere Kreis stellt die äußere Welt dar, der mittlere Kreis die Beziehungswelt und der innere Kreis steht für die innere Welt. Mit dem Story Molecule lassen sich diese drei Welten entwickeln und in Beziehung zueinander setzen. Autorinnen und Autoren können es nutzen, um die Entwicklung ihrer Figur nachvollziehbar und dynamisch zu gestalten. Außerdem können sie mit ihm überprüfen, ob eine Geschichte in allen Welten spielt, eine dieser Welten beispielsweise zu dominant ist oder eine überhaupt nicht erzählt wird, und sie können festlegen, welche Fragen sich in ihnen für das Publikum und die Lesenden stellen: In welchen Welten spielt die Geschichte? Welche Fragen stellen sich in der Außen-, Innen- und Beziehungswelt? Habe ich in einem dieser Bereiche zu viele oder noch keine Fragen? Erzählt meine Geschichte mehr im Äußeren, auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Inneren der Figur? In welchen Szenen werden diese Fragen thematisiert?
In jeder dieser Welten stellt sich zudem eine richtungsgebende Hauptfrage, die für die dramatische Relevanz von Bedeutung ist. In LITTLE MISS SUNSHINE geht es in der äußeren Welt um die Fragen, ob die Familie rechtzeitig in Kalifornien ankommt und Olive den Wettbewerb gewinnen wird. In der Beziehungswelt lautet die Hauptfrage, ob die Familie wieder zu einer funktionierenden Gemeinschaft wird. In der inneren Welt stellt sich die Frage, ob die Familienmitglieder ihre Abneigungen gegeneinander ablegen, sich wieder vertrauen et cetera. Im Idealfall wirkt sich ein dramatisches Element auf alle drei Welten aus. Denn in gut entwickelten Geschichten wird nicht nur von allen drei Welten erzählt, vielmehr beeinflussen sie sich gegenseitig.
SIND DIE DREI WELTEN STATISCH, GIBT ES IM GRUNDE NICHTS ZU ERZÄHLEN, DANN IST DAS, WAS ERZÄHLT WIRD, LANGWEILIG.
Die dramatische Relevanz kann entsprechend mit folgenden Fragen überprüft werden: Verändert ein Ereignis in der äußeren Welt die Beziehungen der Figur zu anderen Figuren und ihr Innenleben? Wirkt sich eine Veränderung in der Beziehungswelt auf das Innenleben der Figur aus und lässt sie in der äußeren Welt anders handeln? Beeinflusst eine Veränderung in der Innenwelt der Figur ihre Beziehungen zu anderen Figuren und ihr Handeln in der äußeren Welt? Positive Antworten auf diese Fragen verleihen diesen drei Welten Dynamik. Sind sie nicht dynamisch, sondern statisch, gibt es im Grunde nichts zu erzählen, dann ist das, was erzählt wird, langweilig.
Fazit
Erzählökonomie und dramatische Relevanz sind keine Gesetze, denen Autorinnen und Autoren folgen müssen, um am Ende des Tages eine gute Geschichte in Händen zu halten. Sie verbieten nicht, eine Geschichte beliebig auszuschmücken, Anekdoten aus der Vergangenheit einer Figur zu erzählen, Neben- und Umwege zu beschreiten. Allerdings sollte man vorher genau wissen, was die Geschichte tatsächlich braucht, um zu funktionieren und verstanden zu werden.
WENN SICH AUTORINNEN UND AUTOREN NICHT KLAR DARÜBER SIND, WAS SIE EIGENTLICH ERZÄHLEN WOLLEN (UND WARUM), WIE SOLLEN ES DANN DAS PUBLIKUM UND DIE LESERSCHAFT SEIN?
Und hierbei helfen die Kriterien der dramatischen Relevanz. Sie unterstützen Autorinnen und Autoren dabei, eine Geschichte effizient zu entwickeln und fokussiert zu erzählen. Vor allem aber können sie mit ihnen eine größere Klarheit über das gewinnen, was sie erzählen wollen. Und eine solche Klarheit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gute Geschichte. Denn wenn sich Autorinnen und Autoren nicht klar darüber sind, was sie eigentlich erzählen wollen (und warum), wie sollen es dann das Publikum und die Leserschaft sein?
Dieser Text ist in leicht veränderter Form zuerst in der AutorInnen-Zeitschrift Federwelt Nr. 113, August / September 2015 erschienen.