Wie in der Anthologie angekündigt, findet ihr hier das alternative Ende zu meiner Erntenacht Geschichte.

Die Blutlese: Alternatives Ende

Die Hitze stand so schwer im Raum, dass der leise Summton des kleinen Tischventilators wie ein zorniger Protest gegen die Arbeitsbedingungen wirkte. Böhmer hatte die Hemdärmel hochgekrämpelt, die Krawatte hing locker am geöffneten Kragen seines Hemdes. Er wischte sich mit dem Unterarm den glänzenden Schweiß von der Stirn. Dann ließ sich in seinem Stuhl zurücksacken. Die Lehne knarzte unter seinem Gewicht. Jorgos starrte auf den Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch, der mit dem Bild nach unten lag. Der kleine Ständer des Rahmens hing in der Luft wie bei einem Kinderfahrrad, das achtlos auf die Seite gelegt wurde. Es war wohl kein guter Tag vor Gericht gewesen.

„Fürchterlich, diese Hitze, was? Du musst Dich doch wohlfühlen, ist ja fast wie da, wo gebürtig du herkommst“, Böhmer schnaufte und wuchtete sich nach vorn. Er begann seinen Schnurrbart zu streicheln.

„Ich komme gebürtig aus Vechta. Da ist es oft kalt.“

Böhmer ignorierte seine Antwort und kramte in einem Stapel Papier. Jorgos war es müde, weiter darauf einzugehen.

„Hier. Das kam heute. Jorgos, ich weiß, dass ihr ein gutes Team wart. Die machen mit die Hölle heiß. Ich habe sie für eine Gehaltserhöhung vorgeschlagen, obwohl wir hier Väter und Mütter haben, die eigentlich erst dran wären. Jetzt das.“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Brief. Der Ventilator setzte einen Moment aus, ehe sein sonores Summen von vorn begann. Jorgos beugte sich vor, um den Brief zu nehmen. Böhmer reichte das Papier herüber.

„Von Constanze. Sie wiederholt da diesen ganzen Quatsch mit dem schwarzen Mann mit feurigen Augen, der Kinder zerschneidet. Und dann schreibt sie noch ein Gedicht. Ein Gedicht! Du hättest merken müssen, dass sie nicht mehr ganz bei Trost ist!“

Jorgos rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Sein Hintern klebte an dem Polster und er vermied sich anzulehnen. Er überflog den Brief und blieb bei dem Gedicht hängen.

„O bleibe von dem Felde fern

Es sitzt die alte Babe drin.

Sie hütet das Getreide gern

lässt ungefragt nichts fürderziehn

Sie hat ein feurig’s Augenlicht

Kind hüte dich und frevle nicht.“

Feuriges Augenlicht. Ein Schauer lief über seinen Rücken.

„Frevle nicht!“, sagte Böhmer. Er nahm sich einen Stift und spielte an der Stiftspitze herum, bis die Tinte seine Fingerkuppe färbte. „Als wäre sie jetzt Mutter Theresa. Weißt du, was der DNA Abgleich mit dem Fall ihres verschwundenen Bruders ergeben hat? Man hat damals Kleidungsreste des Jungen gefunden, aber die Verfahren waren nicht so weit. Jetzt hat man den Fall neu aufgerollt. Rate mal, wessen DNA man gefunden hat.“

Jorgos sagte nichts. Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und starrte Böhmer an.

„Constanzes natürlich! Und jetzt das hier.“

Er schob Jorgos eine Tageszeitung herüber. Es war eine Boulevardzeitung, die in ihren üblichen dicken Blockbuchstaben Neuigkeiten verkündete. Killer-Kommissarin nach 20 Jahren des Mordes an ihrem Bruder überführt. Weiße Schrift auf rotem Untergrund. Alles Großbuchstaben. Sein Magen wurde flau.

„Was für eine Scheiße“, murmelte er.

„Das kannst Du laut sagen. Woher die das immer alles wissen? Aber es kommt noch besser. Du hast einen hervorragenden Riecher gehabt. Hier die Liste, die Du angefordert hattest.“

Das nächste Stück Papier wurde über den Schreibtisch gereicht. Es waren Namen und Orte. Eine ganze DINA4 Seite voll.

„Alles verschwundene Kinder in der Nähe von Kornfeldern in den letzten 5 Jahren.“ Böhmer stemmte seine Ellenbogen auf den Schreibtisch und ließ den Kopf gegen seine Fäuste sinken.

„In ganz Deutschland. Wie viele davon glaubst du, hat unsere liebe Kollegin auf dem Gewissen?“

Jorgos überflog die Liste. Die Fälle verteilten sich von Süd nach Nord, West nach Ost ohne ein erkennbares Muster in Zeit und Ort.

„Ich kann mir das kaum vorstellen.“

„Ich konnte mir auch diesen Albtraum hier kaum vorstellen. Genug davon.“ Böhmer erhob sich, lüftete sich das schweißfleckige Hemd und ging zur Tür. Er öffnete sie.

„Finde heraus, wo die Zusammenhänge sind. Wir haben es hier mit einer Verrückten zu tun. Einer, die glaubt, sie sei ein Fabelwesen, das Kinder frisst.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung Ausgang. Jorgos nahm den Stapel Papier, der sich angesammelt hatte und ging hinaus.

„Wir brauchen Ergebnisse. Das Thema muss jetzt erledigt werden. Ich kann nicht gebrauchen, dass mir das in ein paar Jahren erneut auf die Füße fällt“, rief Böhmer ihm nach.

Aber Jorgos war schon mit dem Kopf woanders. Feurig´s Augenlicht. Die Worte brannten in seinem Schädel. Er fühlte, wie der Schweiß von seinen Achsel hinabrann. Ja, er hatte recht mit seiner Vermutung. Noch sah er Constanze vor sich, wie er sie gefunden hatte. Nackt, Blutbesudelt. Mit einem abgetrennten Kinderarm auf sich liegend. Und immer wieder ihre Worte. Immer wieder diese Worte. An einem Tisch blieb er stehen und stützte sich ab. Er fasste sich an den Schädel, um den Kopfschmerz ein wenig herauszumassieren. Das besorgte „Alles in Ordnung?“ seiner Kollegin hörte er nur als dumpfes Hintergrundgeräusch. Er hatte Böhmer nicht alles gesagt. Er hatte ihm nicht gesagt, dass er von den feurigen Augen geträumt hatte. Dass sie ihn geweckt hatten, in dieser Nacht, mit einer dunklen Vorahnung. Dass er nur deswegen überhaupt ins Feld gelaufen war. Und er hatte ihm auch nicht erzählt, dass er seither jede Nacht von diesen feurigen, roten Augen träumte. Er starrte noch einmal auf die Liste mit den Namen. Eine Frage schwebte über allem und sie ließ ihm keine Ruhe.

Was, wenn Constanze doch die Wahrheit sagte?

ENDE